Mit der Ausstellung Andar para existir („Laufen, um zu existieren“) von Lorenzo Armendáriz und Brun Morais verfolgt die Stiftung Kai Dikhas zwei Hauptziele: die deutsche Öffentlichkeit auf einige Realitäten der Roma in Lateinamerika aufmerksam zu machen und gleichzeitig eine Debatte über Fotografie, Identität und Subjektivierungsprozesse im Kontext der Roma-Kunst und Kultur anzuregen. Denn fotografische Bilder bilden nicht nur die Realität ab, sondern schaffen auch selbst neue Realitäten und diese Realitäten sind nicht einfach nur (visuelle) Objekte oder Dekorationen in unserem Leben; sie zwingen uns eine Art des Sehens und Seins auf. Was wir sehen und was wir nicht sehen, d.h. das Regime der Sichtbarkeit, in dem wir uns bewegen und beobachten, ist nicht etwas Spontanes oder Freies, sondern wird von dominanten oder hegemonialen Unterscheidungen durchzogen, die die Möglichkeiten des Sehens organisieren und in der Tat ein Repertoire von Rahmen und Werten, von Trennungen und Rändern auferlegen, die bestimmte Identitäten sichtbar machen und andere zensieren oder unsichtbar machen.

Lorenzo Armendáriz (Mexiko, geboren 1961) erinnert sich an die großen Hände und Ringe seines Großvaters. Dieser war ein großer, dunkler Mann, der in einem Lastwagen lebte und “El Húngaro” (der Ungar) genannt wurde. Als Kind besuchte er ihn, aber erst als Erwachsener erfuhr er, dass er nicht aus Ungarn stammte, sondern Teil der mexikanischen Roma-Gemeinschaft war. Sein fotografisches Projekt, eine innere Suche nach seinen persönlichen Spuren und dem Porträt der Roma-Kultur, die in Lateinamerika trotz ihrer jahrhundertealten Präsenz wenig bekannt ist, entstand aus dieser Unruhe heraus. Seit 1995 hat Armendáriz ein fotografisches Archiv über das Leben einiger Roma-Familien in Mexiko aufgebaut. Dort hat er mit seiner Kamera das Leben und die Erinnerungen der LUDAR festgehalten. Diese aus dem ehemaligen Rumänien stammende Gruppe kam Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Mexiko und integrierte sich in die mexikanische Gesellschaft, indem sie auf der Straße auftrat, Handel trieb und Wanderkino betrieb. Es waren nomadische Familien, die in den 50er, 60er und 70er Jahren einen großen Teil des mexikanischen Territoriums bereisten. Diese Erinnerung an das Wandern ist das, was Lorenzo fotografiert hat, wo die Reise nicht eine Flucht darstellt, sondern eine Lebensweise, um zu existieren und sich selbst zu bestätigen. Seine Schwarz-Weiß-Bilder tauchen in das Leben und die Geschichte von Roma-Familien ein und spielen mit Schatten, Reflexionen und Atmosphären, um die Fotos zu lebendigen, kontextualisierten Dokumenten zu machen, die darauf abzielen, Stereotype aufzubrechen.

Brun Morais (Brasilien, geboren 1989) konfrontiert sowohl in seinen anthropologischen Forschungen als auch in seinen interaktiven Kunstinstallationen aus Spiegeln die dominante Repräsentation der Roma-Identität mittels invertierter Sätze und Zitaten aus der dekolonialen Theorie. Seine ausgestellte mehrteiligen Installation "Reflections", die eine der neusten Erwerbungen der Sammlung Kai Dikhas ist, kombiniert zeitgenössische Kunst und akademische Konzepte in einer Reihe von Installationen, die dazu einladen, über Subalternität, Marginalisierung, Intersektionalität und Standpunkttheorie nachzudenken.  „Reflections“ basiert auf der Lektüre von "Can the Subaltern speak?" der indischen Autorin, Wissenschaftlerin, Literaturtheoretikerin und feministischen Kritikerin Gayatri Spivak (1985), die eine sehr wichtige Lektüre im Rahmen der postkolonialen Studien vorschlägt. Gegen den Universalismus der hegemonialen westlichen Kultur entwickelt Morais eine Ausdruckskraft, die auf einem Pluriversalismus der Roma-Identität beruht.

Beide Künstler*innen, ein*e jede*r mit eigenem künstlerischen Mittel, begeben sich, unterschiedlichen Generationen zugehörig, auf die aktive Suche nach ihrer eigenen Identität. Laufen, um zu existieren.
 


Kuratiert von : Álvaro Garreaud / Moritz Pankok



abb. Lorenzo Armendáriz, Ohne Titel. Barrio "La Perla", Buenos Aires, 2004



Eröffnung: 28. September 2023 - 19:00 Uhr
Laufzeit: 29. September - 13. Januar 2024
Ort: Stiftung Kai Dikhas und Kunstraum Dikhas Dur, Prinzenstr. 84.2, 10969 Berlin